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Kurzgeschichte

Pa|ra|noia, die [Substantiv; med.]

von Elisa Kaiser

Da ist schon wieder dieser Typ. Schlurft immer zur selben Zeit in die Bibliothek mit abgerissenen Hosen und Kapuzenpullover. Er kann noch keine dreißig sein, obwohl ich sein Gesicht nur ganz kurz gesehen habe. Er hat immer genau ein Buch dabei, das er am Tag zuvor ausgeliehen hat, und das bringt er zurück und holt sich ein neues. Liest er die Bücher an einem Tag? Beim Gespenst von Canterville kann ich mir das ja noch vorstellen oder sogar beim Fänger im Roggen. Aber Krieg und Frieden? Oder ein Reiseführer über die Ostsee? Ich glaube kaum.
Vielleicht ist er einer von diesen Leuten mit einem fotografischen Gedächtnis, obwohl das eigentlich anders heißt als fotografisches Gedächtnis. Eidetisches Gedächtnis. Wie auch immer. Der Kollege ist seltsam. Versteht mich nicht falsch, er tut nichts Komisches, außer sich eben jeden Tag ein neues Buch auszuleihen, jedes Mal aus einem anderen Teil der Bibliothek. Also entweder er interessiert sich einfach für alles oder er liest die Bücher gar nicht, sondern benutzt sie als Briefbeschwerer oder als Fliegenklatsche oder so.
Ich wollte ihn schon einmal ansprechen, als ich gerade die zurückgegebenen Bücher in der Reihe weggestellt habe, in der er sich gerade sein neues Buch ausgesucht hat. Da dachte ich noch, dass er jetzt unter die Bäcker gegangen war, weil er bei den Büchern übers Brotbacken stand und jedes einzelne in die Hand nahm, um es anzusehen. Er schlug keines davon auf, um sich das Inhaltsverzeichnis oder die Bilder darin anzusehen. Er nahm sie einfach in die Hand, eins nach dem anderen, als würde er anhand des Gewichts entscheiden, ob er es heute ausleihen würde oder nicht. Aber ich habe mich nicht getraut, etwas zu sagen. Und was hätte ich auch sagen sollen?
Diese Adidas-Trainingshosen mit dem abgelatschten Saum und der Hoodie, dessen Kapuze er tief ins Gesicht gezogen hatte, machten nicht eben einen Vertrauen erweckenden Eindruck. Als ich mir gerade einen unverfänglichen Satz zurechtgelegt hatte, wandte er mir den Kopf zu und schaute mich aus der Dunkelheit unter seiner Kapuze an. Einfach nur an. Er verzog sein Gesicht nicht, er lächelte nicht, er zwinkerte nicht. Er sah mir einfach nur ins Gesicht und sagte keinen Ton. Dann widmete er sich wieder seinen Büchern und schien mich vergessen zu haben.
Sein Blick, meine Güte. Mein erster Impuls war, sofort die Polizei zu rufen, aber spätestens wenn sie mich in der Leitstelle gefragt hätten, was der junge Mann denn angestellt hatte, wäre mir nichts mehr eingefallen. Ich konnte ja nicht einmal guten Gewissens behaupten, dass er ein Buch schlecht behandelt hätte, ein Eselsohr hineingemacht oder den Rücken gebrochen oder so. Er gab die Bücher immer in tadellosem Zustand zurück. Aber irgendetwas war an ihm, das alle meine Vorurteilsschubladen aufzog. Auch wenn ich zugeben muss, dass ich in letzter Zeit etwas zu viele Dokumentationen und Filme über Serienmörder geschaut hatte.
Ich rief nicht die Polizei und ich versuchte auch nie wieder, den Herren anzusprechen. Ich registrierte, wenn er kam und wenn er ging, wie er am Selbstbedienungsschalter ein Buch zurückgab und eins auslieh. Er sah mich auch nie wieder an bis ich mir selbst schließlich glaubhaft vermitteln konnte, dass ich mir nur eingebildet hatte, dass er mich jemals angesehen hatte. Trotzdem hörte ich mich nie auf zu fragen, was es war, dass er mir jeden Tag auffiel. Es kamen noch abgerissenere, übelriechende, wenig gepflegte Leute herein, die ich häufig nur an ihrer Duftmarke erkannte, weil ich gar nicht aufsah. Aber da der Typ jeden Tag zur selben Zeit, plus minus zwei Minuten, durch die Tür geschlendert kam, die Hände in den Taschen vergraben, das Gesicht auf die Füße gesenkt, ertappte ich mich an manchen Tagen, dass ich ihn bereits erwartete. Dabei kannte ich ihn überhaupt nicht. Ich hatte keine Ahnung, wer er war, und ich war mir auch nicht sicher, ob ich das überhaupt wissen wollte. Vermutlich kam er von irgendwo aus der Stadt, aber sicher sein konnte ich mir nicht. Ich wusste nicht, wie er hieß, oder ob er arbeitete oder ob er einen Hund hatte oder eher so der Katzentyp war.
„Entschuldigen Sie“, sagt eine leise, raue Stimme, die klingt, als würde sie selten benutzt, während ich noch bis zum Scheitel in meinen Gedanken stecke.
„Ja?“, sage ich, ohne aufzusehen. Ich kämpfe mich noch an die Oberfläche meines Bewusstseins.
„Haben Sie etwas über Knoten?“
Jetzt hebe ich meinen Kopf und sehe ihm mitten in die Augen, die mich schon einmal so schockiert hatten, weil sie ausdruckslos und leer unter der Kapuze hervorgeblitzt hatten. Ich starre ihn an, statt zu antworten.
„Knoten?“, schaffe ich es schließlich zu fragen und in meinem Kopf entspinnen sich die wildesten Ideen, was so ein Typ mit dezidiertem Wissen über Knoten anfangen würde. Ich hätte die Polizei anrufen sollen, als ich die Chance dazu hatte.
„Knoten“, sage er, als sei er auf einer strengen Wortdiät.
Ich zwinge mich, den Blick von ihm zu lösen und auf meinen Bildschirm zu richten, und nehme die Maus in die Hand. Ich durchsuche den Katalog und schreibe ihm die Regalnummer auf, in der er die Knoten erwarten kann. Da fühle ich mich schon längst wie eine Komplizin in einem schrecklichen Verbrechen.
„Soll ich Ihnen zeigen, wo …“
Da schüttelt er schon den Kopf, nimmt mir den Zettel aus der Hand, ohne meine ausgestreckten Finger zu berühren, und geht davon. Wie dumm von mir. Vermutlich kennt er sich besser in der Bibliothek aus als ich. Noch einmal denke ich ernsthaft daran, die Behörden zu verständigen, komme aber zu demselben Schluss wie beim letzten Mal. Schließlich habe ich nur meine eigene Paranoia, die auf dem Boden von Netflix wächst und gedeiht, und das ist schließlich kein Beweis. Und wie groß ist schon die Wahrscheinlichkeit, einen waschechten Serienkiller vor mir zu haben? Ups, das soll natürlich nicht so klingen, als wünsche ich mir tatsächlich einen zu treffen, zumindest nicht ohne irgendeine Art von Gitterstäben zwischen uns.
Warum hat er mich überhaupt gefragt? Ich weiß, dass er hervorragend mit den Computern in der Bibliothek umgehen kann, also warum hat er mich nach Büchern über Knoten gefragt?
Um Himmels willen, er will mich umbringen!

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