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Fingerübung

Was man denkt, nachdem man eine Kontaktanzeige aufgegeben hat

von Elisa Kaiser

„Lange Rede kurzer Sinn: Ich möchte einen Mann kennenlernen, 50+, der wie ich noch im Arbeitsleben steht und täglich mit menschlichen Wahrheiten konfrontiert ist, zum gemeinsamen Ausgleich.“

 

So. Das habe ich also erledigt. Eine Kontaktanzeige geschrieben. Hätte ich so eine Liste mit Dingen, die ich noch machen möchte, bevor ich das Zeitliche segne, könnte ich das jetzt abhaken. Wenn es denn überhaupt draufgestanden hätte. Vermutlich nicht.

Ich will nicht auf der Suche sein. Nie wollte ich auf der Suche sein. Ich hatte doch alles gefunden. Meinen Udo.

Aber wenn das Haus weiter so leer ist, wenn mich die Kinder weiter so anschauen, wenn ich selbst mich weiter so im Spiegel anschaue – dann werde ich verrückt. Noch verrückter. Ich bin ja damals schon verrückt geworden eigentlich. Wenn ich ehrlich bin, weiß ich heute noch nicht, wie ich damit hätte zurecht kommen sollen. Bin ich überhaupt je damit zurecht gekommen? Nach zwölf Jahren sollte man es meinen. Zwölf Jahre ohne Udo. Bald werde ich länger ohne ihn verbracht haben als mit ihm.

Es war ein Herzinfarkt. Mit zweiundvierzig. Ich sehe das jeden Tag. Wenn sie kommen mit ihren zentimeterdicken Patientenakten, bewusstlos und mit der Herzdruckmaschine, dann ist das Alltag für mich. Auch wenn sie nicht wieder aufwachen und nach der nächsten Zigarette fragen. Ich kenne das. So etwas passiert. So etwas passiert auch Leuten mit zweiundvierzig. Aber nicht meinem Mann. Das darf nicht sein.

Wenn er Krebs gehabt hätte. Oder einen Unfall. Aber er hatte einen Herzinfarkt, ausgerechnet einen Herzinfarkt, und ich konnte ihn nicht retten. Obwohl wir sie so oft wieder hinbekommen haben. So oft haben wir sie zurückgeholt und nach Hause geschickt. Dieses Mal nicht.

Es gab Zeiten, da habe ich den Respekt vor meinen Patienten verloren. Quarzen, saufen, fressen und sich dann wundern, wenn der Kalk die Adern zusetzt und das Licht ausgeht. Und kaum haben sie ihren dritten Bypass, wird das nächste Bier zum Steak bestellt. Natürlich gab es auch die anderen, diejenigen, die nichts dafür konnten, die jungen Diabetiker, Sportler. Oder die, die eine Kehrtwende schafften, bevor es richtig schlimm wurde. Die mochte ich. Ich bin selbst diszipliniert und ich mag es, wenn es auch andere sind.

Der Udo hat nicht gesoffen. Er hat auch nicht gefressen. Er hat mit dem Rauchen aufgehört, als die Kinder kamen. Naja, fast. Manchmal hat er abends im Büro geraucht, wenn er länger arbeiten musste. Und er hat viel gearbeitet. Er trank gern einen Kognak, aber in Maßen. Ich habe ihn nie richtig betrunken erlebt. Dick war er auch nicht. Er mochte seine Salami und seinen Speck, aber er hatte so viel um die Ohren, dass er keine Zeit hatte zum Zunehmen.

Am Ende war es der Stress. Ich würde so gern behaupten, dass es überraschend kam. Das kam es. So überraschend, wie man gegen einen Baum fährt, wenn man mit 150 km/h über die Landstraße fährt. Natürlich passiert es irgendwann, aber man weiß ja nicht genau, wann. Und es gibt ja immer noch die Chance, dass man doch damit durchkommt.

Tot hat er sich gearbeitet. Und ich habe es zugelassen. Das ist meine Wahrheit, mit der ich jeden Tag aufwache. Die ich mit durch den Tag und abends mit ins Bett nehme.

Zumindest habe ich wieder Respekt vor meinen Patienten. Vor allen. Kaum jemand raucht und trinkt, um sein Leben zu verkürzen. Wir tun es aus anderen Gründen. Weil wir glauben, noch Zeit zu haben, es irgendwann besser zu machen. Weil wir glauben, dass der Kelch doch an uns vorüber gehen könnte. Weil wir alle wahnsinnig gut darin sind, an der Wahrheit vorbeizuschauen.

Ich bin unglücklich. Das ist meine andere Wahrheit. Das hätte Udo nie gewollt. Und bevor hier das Licht ausgeht, will ich es erstmal wieder anmachen.

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