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Kurzgeschichte

Besuch

von Elisa Kaiser

Sie steht am Fenster und gießt die Blumen, in der einen Hand eine Zigarette, in der anderen die Gießkanne. Ihre Strickjacke ist ihr zu groß, sie hängt um die knochigen Schultern, aber ist vorn fein säuberlich zugeknöpft. Die grauen Kringel, die vom Ende ihrer Zigarette aufsteigen, hüllen immer wieder ihren Kopf ein, sodass ihr Gesichtsausdruck darin verschwimmt.
Ich weiß nicht genau, ob sie traurig ist. Es war schon immer schwer zu sagen, was sie dachte und fühlte. Und ich habe es schon immer gehasst, wie viel sie rauchte. Ich frage mich, wann sie das letzte Mal ein Fenster geöffnet hat und wie ihre Blumen in diesem Mief überhaupt überleben können. Aber sie scheint sie gut zu pflegen, die Orchideen und ein paar Callas und Zierpflanzen mit bunten Blüten, die ich nicht kenne. Auf dem Tisch steht ein Blumenstrauß, der keine drei Tage alt ist. Die Blumen sind so fröhlich und farbenfroh und lebendig. Sie nicht.
Die Möbel in ihrer Wohnung sind braun, ihre selbst getöpferten Tassen sind braun, ihre Sachen sind braun, ihre Finger sind dort braun, wo immer die Zigarette zwischen ihnen hängt. Und ihre Miene ist so neutral, dass sie ohne weiteres als braun durchgeht.
Sie ist zwei Jahre älter als ich, sieht aber aus, als würden uns zwanzig trennen. Sie hat tiefe Falten im Gesicht, graue Haare durchziehen ihren Schopf, ihr ganzer Körper hat seine Spannkraft verloren und ich kann mich nicht erinnern, wann ihre Stimme das letzte Mal beschwingt geklungen hatte. Wenn sie überhaupt je spricht.
Wenn ich hereinkomme, setzt sie immer Tee auf und ich frage sie, wie es ihr geht. Sie sagt gut. Sie sagt immer, dass es ihr gut geht. Ich weiß nicht, ob das Wort für sie dasselbe bedeutet wie für mich. Sie hat mich nach meinem Tag gefragt, wie immer, und nach meinem Befinden. Ich habe ihr geantwortet, nicht sehr wortreich, weil ich nie das Gefühl habe, dass es sie wirklich interessiert.
Warum bin ich hier? Ich frage es mich jedes Mal, sobald ich über die Schwelle trete und die abstoßende Melange aus Bratgerüchen und kalten Zigarettenrauch einatme. Natürlich weiß ich, warum ich hier bin. Sie würde es für mich tun, wenn es umgekehrt wäre. Sie hat sonst niemanden, niemanden, der verstehen könnte. Obwohl ich nicht glaube, dass ich verstehe, nicht genug jedenfalls. Wir mögen dieselben Eltern haben und vom selben Kühlschrankinhalt gezehrt haben, als wir jung waren, aber dennoch erwische ich mich immer wieder dabei, wie so etwas aus ihr werden konnte. Ja, so etwas, nicht so jemand.
Ich war noch zu jung, um zu begreifen, was nicht mit ihr stimmte, aber ich war die einzige, der es auffiel, abgesehen von ihr selbst natürlich. Ich weiß nicht, ob die Stimmen von Anfang an da waren oder ob es mit der Angst losging. Ich meine nicht die Angst, dass etwas unter dem Bett oder im Schrank ist, das einen auffrisst, sobald man eingeschlafen ist. Sie hatte Angst, dass man ihr etwas ins Glas geschüttet hatte und trank nur noch aus Strohhalmen, die sie fest zugedrückt hielt, wenn sie nicht daraus trank. Sie hatte Angst, dass Papa und Mama und die Lehrer ihre Gedanken lesen konnten. Sie hatte Angst, dass sie am nächsten Morgen nicht mehr erwachte, wenn sie die Augen schloss. Und dann die Stimmen. Ich weiß nur, wie meine Gedanken klingen und auch wenn sie manchmal aufdringlich sind, habe ich sie dennoch unter Kontrolle. Sie beherrschen mich nicht. Ich will mir nicht einmal vorstellen, wie es ist, wenn die Gedanken lauter sind als der Fernseher, als die Autos draußen, als die Stimmen der Leute, die versuchen, mit dir zu reden. Ich will mir auch nicht vorstellen, was sie ihr gesagt haben müssen. Ich weiß, dass sie stark ist, sie ist der sturste Mensch der Welt, deshalb weiß ich auch, dass sie ihnen lange widerstanden hat. Vermutlich Jahre. Aber irgendwann konnte sie es nicht mehr.
Sie hat mir einmal gesagt, was die Stimmen ihr befohlen haben, da lag sie im Krankenhaus, die Arme in dicke Bandagen. Sie sollte mich töten, ihre kleine Schwester. Sie sollte ein Messer nehmen, in mein Zimmer kommen und mich im Schlaf erstechen. Stattdessen nahm sie das Messer und schnitt sich die Arme auf. Sie wollte lieber sterben, als mich umzubringen. Vielleicht wollte sie auch lieber sterben als den Stimmen zu folgen.
Die Blumen haben genug Wasser. Sie schiebt mit der jetzt freien Hand den Vorhang beiseite und schaut hinaus. Ich frage mich, was sie dort sieht, aber sie sagt es mir nicht. Eine Wolke macht Platz für die Sonne und der gleißende Strahl fällt in das Zimmer. Ich kann sehen, wie sie die Augen schließt und das Licht genießt. Plötzlich sieht sie glücklich aus.
Sie hat nie Abitur gemacht, nie studiert, nie richtig gearbeitet. Mit sechzehn kam sie das erste Mal in die Psychiatrie. Sie bekam Medikamente, die sie irgendwann nicht mehr nahm, dann kam sie wieder in die Psychiatrie. Ich besuchte sie jeden Tag und schon damals war es so wie heute. Ich fragte, wie es ihr ging, sie sagte gut. Sie fragte, wie es mir ging, ich sagte gut. Im Vergleich zu ihr ging es mir immer gut. Ich machte Abitur, ich studierte, ich arbeitete, machte Karriere, heiratete, bekam Kinder. Und immer besuchte ich sie. Im Krankenhaus, in der Psychiatrie, in der Reha, zu Hause. Ich sortierte ihre Tabletten, ich ging mit ihr zum Arzt, ich veranlasste ihre Einweisung, wenn es wieder soweit war.
Es gibt niemanden, den ich so sehr bewundere wie meine Schwester. Und gleichzeitig fühle ich die Schuld so schwer auf meinen Schultern, dass sie dieses Leben führen muss und nicht ich. Dass wir nicht einmal teilen können wie die Schokomilchpacken in der Grundschule. Oft ist es nur diese Schuld, die mich überhaupt über die Schwelle treten lässt. Aber jetzt, wo die Sonne ihr Gesicht ganz einnimmt, kommt einer dieser seltenen Momente, in denen ich sie sehe. Wirklich sehe.

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