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Kurzgeschichte

Tschüss

von Elisa Kaiser

Mein Bruder sieht nicht besonders schlau aus. Es wirkt immer ein bisschen lächerlich, wenn er ein Buch in der Hand hat. Das hat er oft in letzter Zeit. Nicht so Comichefte oder Playboys oder so, sondern richtige Bücher, ohne Bilder. Manchmal glaube ich, er starrt nur auf die Seiten und blättert in regelmäßigen Abständen um, um uns glauben zu machen, dass er tatsächlich liest. Vielleicht liest er wirklich, aber es sieht einfach komisch aus, mein Bruder mit seiner Nase in einem Buch.
„Was liest du da?“
Er reagiert nicht auf meine Frage. Natürlich kann ich sehen, was er vorgibt zu lesen. Der Fänger im Roggen.
„Bist du dafür nicht ein bisschen zu alt?“
Wieder sagt er nichts.
Ich glaube, Bücher wirken in seinen Händen fehl am Platz, weil er so groß ist. Zwei Meter vier, hundertzwölf Kilo. Zumindest hat er mal so viel gewogen, als er noch gespielt hat. Im Krankenhaus hat er ganz schön abgenommen, aber seit er zu Hause ist, isst er nur noch Junk. Sein Gesicht aufgegangen wie ein Hefekloß und unter seinen unförmigen Kapuzenpullovern hat er bestimmt ein bisschen Bauch. Wenn er so weitermacht, ist er irgendwann ein riesiger Fettkloß. Stellt euch mal einen zwei Meter vier großen Fettsack vor. Da kannst du nur noch in Deckung gehen, wenn er auf dich zuwalzt.
Ich nehme eine Erdnuss aus der Schale, die immer auf dem Küchentisch steht, und werfe sie auf ihn. Sie trifft ihn an der Wange und fällt ihm dann in den Schoß. Er zuckt kurz zusammen und tut dann so, als wäre nichts passiert. Ich nehme noch eine Nuss, aber damit werfe ich an seinem Kopf vorbei. Als ich die dritte in die Hand nehme, schaut er endlich auf. Für einen Moment stelle ich ihn mir mit Brille vor und muss lachen.
„Findest du das witzig?“, fragt er mit diesem herablassenden Unterton, ohne den er eigentlich überhaupt nicht mit mir reden kann.
„Total“, sage ich lahm und finde es schon gar nicht mehr witzig.
„Musst du nicht zur Schule?“
Ich verdrehe die Augen. „Du kriegst auch gar nichts mehr mit. Ich gehe seit Jahren nicht mehr zur Schule.“ Berufsschule zählt ja wohl nicht.
„Dann geh halt zur Arbeit.“
„Du hast mir überhaupt nichts zu sagen.“
„Was ist das überhaupt für eine Arbeit, wo du um zehn noch Leuten auf den Sack gehen kannst?“
„Schon mal was von Spätschicht gehört?“
Vermutlich haben unsere Gespräche nicht nennenswert an Qualität gewonnen, seit wir sprechen gelernt haben. Wir hatten uns eben nie besonders viel zu sagen. Ich wollte nie etwas von seinem tollen Leben wissen und er wollte nie was von meinem erbärmlichen Dasein wissen. Alles, was es über ihn zu wissen gab, habe ich sowieso aus dem Fernsehen erfahren. Oder von unseren Eltern.
„Er wechselt zu den Rhein-Neckar-Löwen“, hat meine Mutter dann gesagt. Oder zu den Füchsen Berlin oder nach Lemgo oder zum THW Kiel oder weiß der Geier, wo er dann die nächste Saison spielt.
Er. Als müssten sie nie dazu sagen, um wen genau es sich handelt. Er – dabei konnte es sich selbstverständlich nur um meinen Bruder handeln. Mein Bruder, das Ausnahmetalent, der Torschützenkönig, das Wunderbarste, das der Handball-Bundesliga seit Stefan Kretzschmar passiert ist. Mindestens.
Bei jedem winzigen Kapselriss blieb meine Mutter die ganze Nacht wach und mein Vater konnte über eine vermeintlich unfaire Schiedsrichterentscheidung eine ganze Woche lang schlechte Laune haben. Sogar Oma und Opa sind auf ihre alten Tage noch eingefleischte Handballfans geworden. Sie haben Schals mit seinem Namen darauf, zeichnen jedes Spiel auf Videokassette auf, selbst wenn er nur auf der Reservebank sitzt. Sie sind sogar mit meinen Eltern nach Katar zur Weltmeisterschaft geflogen, obwohl mein Opa Flugangst hat.
Da ist es dann auch passiert. Ich habe es im Fernsehen gesehen, hundertmal und in Zeitlupe. Es war nicht einmal das Finale, nur irgendein bescheuertes Vorrundenspiel. Ein Spielzug, den er schon drei oder viermal in diesem Spiel gemacht hat und wahrscheinlich Hunderte Male davor. Er ist in einen Pass des Gegners hineingelaufen, hat ihm den Ball abgenommen und ist nach vorn. Das kann er gut, dafür haben sie ihn geholt. Er braucht nur sieben oder acht Schritte bis zum Kreis und dann springt er und es sieht immer aus, als würde er gleich mit ins Tor fliegen. Der Ball geht rein und der Schiri pfeift zweimal, während mein Bruder sich abrollt und wieder auf die Füße kommt. Normalerweise. Es sah nicht aus, als wäre irgendetwas schief gegangen. Aber irgendwas muss ganz gewaltig schief gegangen sein, denn er steht nicht mehr auf, sondern liegt da nur mit verzerrtem Gesicht und er brüllt.
Ich kann echt viel unschmeichelhaftes Zeug über meinen Bruder erzählen. Ich sag euch, die Liste mit seinen Fehlern ist verdammt lang. Aber ich kann beim besten Willen nicht behaupten, dass er ein Weichei ist. Er hat sich schon x-mal verletzt und sich nie beschwert, nicht bei mir jedenfalls. Er hält eine Menge Schmerz aus. Deswegen wusste ich auch, dass es übel ist, als er da lag und schrie. Ziemlich übel. Die Sanis und der Trainer und die anderen Spieler waren ewig um ihn herum und natürlich wussten die Idioten vom Fernsehen, dass meine Familie im Stadion war. Meine Mutter heulte und sah aus, als müsste sie sterben. Mein Vater hatte die Arme um sie gelegt und die Brauen bis zum Haaransatz hochgezogen. Oma hatte die Hände vorm Mund und ich glaube, mein Opa hat auch geweint. Wäre in dem Moment eine Kamera auf mich gerichtet gewesen, hätte ich mit Sicherheit genauso bekloppt ausgesehen.
Sie haben ihn dann irgendwann vom Feld getragen und das Spiel ging ohne ihn weiter. Sie haben unentschieden gespielt. Gegen Dänemark. Ihr könnt es euch bestimmt denken: Mein Bruder spielte den Rest der Weltmeisterschaft nicht mehr mit. Er lag im Krankenhaus und die nächsten Monate war nicht klar, ob er überhaupt wieder würde laufen können. Irgendwie hatte er es geschafft, sich drei Lendenwirbel zu brechen, und drei der fünf Ärzte, zu denen meine Eltern ihn schleppten, sagten meinem Bruder, dass er sich lieber an den Rollstuhl gewöhnen sollte. Die anderen beiden wollten sich nicht festlegen. Zu Weihnachten war dann klar, dass wir das Haus nicht umbauen mussten. Er lief wieder.
Trotzdem spielt er nicht mehr. Bei dem Unfall war auch ein Kreuzband im linken Knie gerissen, aber weil die Lendenwirbel irgendwie wichtiger gewesen waren, hat sich darum niemand so richtig gekümmert. Mein Bruder ist Rechtshänder, also springt er mit links. Alle fünf Ärzte waren sich einig, dass er nie wieder auf diesem Niveau würde Handball spielen können. Und der Star der Bundesliga gibt sich natürlich nicht mit der Kreisklasse zufrieden. Da sitzt er lieber zu Hause, nervt seine Schwester, also mich, bis zur Kotzgrenze und bemitleidet sich selbst.
Meine Eltern haben sich um alles gekümmert. Sie haben ihn aus dem Vertrag rausgeboxt und seine Wohnung in wo auch immer gekündigt und sie ausgeräumt. Er hat einen eigenen Physiotherapeuten, der ihn drei oder viermal die Woche durchknetet und locker schüttelt.
„Wann suchst du dir mal einen Job?“, frage ich.
„Wenn du aufhörst zu nerven.“
„Du weißt schon, dass ich dich nicht nerven würde, wenn du deinen Arsch einfach wieder in eine eigene Wohnung verfrachten würdest? Und wenn du endlich einen Job hättest, würdest du vor allem mich nicht mehr nerven.“
„Wieso ziehst du nicht aus? Du hast doch n super Job.“
Meine Lippen kräuseln sich von ganz allein. „Drittes Lehrjahr“, knurre ich. „Glaub mir, ich wäre schon längst raus, wenn ich es mir leisten könnte.“
„Bitter, wenn man verwöhnt ist.“
Dazu kann ich erstmal gar nichts sagen. Ich?! Verwöhnt?! Wer hat denn von Mami und Papi immer alles in den Arsch gesteckt bekommen? Wen von uns haben sie denn zu jedem jämmerlichen Spiel gefahren? Wen haben sie aufs Sportgymnasium geschickt und bei wem waren sie zu jedem verdammten Bundesligaspiel? Das war ja wohl nicht ich! Mein Vater ist sogar mit meinem Bruder joggen gegangen, als er noch mithalten konnte. Meine Mutter wartete dann schon immer mit einem Eiweißshake.
Ich greife in die Schale mit den Erdnüssen und werfe eine ganze Handvoll nach ihm. Ich stehe auf und mache dasselbe noch mal. Überall in der Küche liegen Erdnüsse herum. Ein paar Hälften sind in seinen Haaren hängen geblieben, die er ganz furchtbar modern trägt. Unten am Hinterkopf ausrasiert, die oberen zu diesem blöden Knoten zusammengebunden. Man bun. Männerbrötchen? Verstehe ich nicht, wie man so rumlaufen kann.
Ich reiße ihm das Buch aus den Händen, während ich aus der Küche stürme. Ich habe es immer noch in der Hand, als ich in meinem Zimmer ankomme. Ich weiß nicht, wohin damit, also werfe ich es in meine Tasche. Der Fänger im Roggen. Da musste ich mal ein Referat drüber halten. Was für ein selbstbezogener Schlappschwanz das war. Wenn wir uns alle immer nur beschweren würden, enden wir ja alle wie mein Bruder. Und was ist das bitteschön für eine beschissene Vorstellung?
Ich habe noch über drei Stunden, bis mein Dienst beginnt. Trotzdem nehme ich meine Tasche, gehe wieder nach unten und ziehe meine Jacke an. Ich bin gerade dabei, den Reißverschluss meiner verdammten Stiefel zuzuziehen, da kommt er in den Flur und schaut mir dabei zu.
„Was?!“
Er zögert. „Nichts“, sagt er dann. „Ich wollte nur Tschüss sagen.“
Ich zerre mir die Mütze über den Kopf. „Tschüss!“, sage ich und knalle die Tür hinter mir zu.
Es hat geschneit. Fast lege ich mich auf dem Weg zur Straße hin, kann mich aber gerade noch fangen. Ich gehe jede Wette ein, dass mein schadenfroher Bruder mich beobachtet und sich jetzt scheckig lacht. Dann hat er wenigstens was, worüber er sich freuen kann, der Idiot!
Ich stapfe zur Garage und öffne das Tor. Der klapprige Renault Twingo dort, das ist meiner. Ich glaube nicht, dass der jemals nochmal TÜV kriegt, aber damit kann sich mein Zukunfts-Ich auseinandersetzen. Ich mache das Radio an, fahre aber noch nicht los. Ich bin viel zu früh dran und es ist nicht so, als würde auf dem Weg irgendeine Zerstreuung auf mich warten. Das einzige, was man von hier mit den Füßen erreichen kann, ist ein verdammter Handballplatz. Supermarkt, Tankstelle, Schule – alles mindestens doppelt so weit. Meine Eltern fahren jeden Tag fast eine Stunde mit dem Auto zur Arbeit, natürlich in verschiedene Richtungen. Alles nur, damit mein ach so begabter Bruder auf diesem Handballplatz trainieren kann. Gott bewahre, dass er irgendwann in seinem Leben einen Bus benutzen muss!
Ich habe auch Handball gespielt, als Kind. Ein halbes Jahr vielleicht. Zu meinem Training kam aber niemand, um mir zuzusehen und Spiele gab es für mich auch nicht. Es gab keine Liga für die D-Jugend. Da war mein Bruder gerade sechzehn und die Talentscouts hatten längst ein Auge auf ihn geworfen. Es stand ganz außer Frage, dass wir umziehen mussten. Dahin, wo seine Schule und sein Verein waren. Meine Eltern wechselten beide den Job und ich die Schule. Klar, was sollte ich anderes machen? Allen außer mir war es offenbar nicht so wichtig, dass ich dadurch alle meine Freunde verlor und jede Chance auf den süßen Typen aus der Parallelklasse. Wie hieß er noch?
Meine Mutter wollte noch einmal umziehen, als mein Bruder das erste Mal den Verein wechselte. Ich glaube, er ging nach Magdeburg. Aber da war er schon achtzehn und irgendwie bekam er meine Eltern dann dazu, doch hier zu bleiben. Ich hab das Kaff zwar echt gehasst am Anfang, aber noch mal weg und wieder neu, darauf hatte ich noch weniger Lust. Und inzwischen ist es gar nicht so übel, schätze ich. Hätte ich Bock gehabt zu studieren, hätten mich meine Eltern bestimmt gelassen. Aber ich wollte schon immer Krankenschwester werden und weil ich dafür eine Lehrstelle in der Nähe gefunden habe, bin ich eben geblieben. Vielleicht studiere ich danach Medizin, dann kann ich ja immer noch weggehen.
Es wird kalt im Auto, also starte ich die Karre und fahre los. Papa kann es auf den Tod nicht leiden, wenn ich die Garage offenlasse, aber das ist mir heute egal. Es ist bisschen glatt und die Leute schleichen, als würden sie das erste Mal in ihrem Leben Schnee sehen. Na gut, lieber so, als dass sie dann mit ihrem Lenkrad zwischen den Rippen bei mir auf der ITS landen. Viele von denen bleiben da dann auch bis es vorbei ist.
Ich weiß ehrlich nicht, wie es mein Bruder gemacht hat. Drei Lendenwirbel gebrochen und er steht einfach wieder auf. Es hat schon ein bisschen gedauert und wahrscheinlich war es auch nicht so einfach. Trotzdem, ich habe ihn nie vorher so kämpfen sehen, nicht mal, als es um den Platz in der Nationalmannschaft ging. Er war nicht verbissen, auch nicht trotzig. Es war eher so, als hätte er die drei Ärzte, die ihm den Rollstuhl ans Herz gelegt haben, nicht gehört. Als wäre es das Normalste der Welt, nach so einer Verletzung wieder aufzustehen. Es war keine Option, sitzen zu bleiben.
Er war in meinem Krankenhaus, deshalb habe ich ihn öfter gesehen. Ich habe ihn manchmal in der Pause besucht oder nach dem Dienst. Himmel! Manchmal bin ich im Nachtdienst in sein Zimmer und habe ihm ein paar Minuten beim Schlafen zugeschaut, echt erbärmlich! In der Zeit haben wir uns gar nicht so schlecht verstanden. Ich glaube, er fand es okay, dass ich kam. Wenn ich ein bisschen Zeit hatte, haben wir nach dem Dienst zusammen ferngesehen. Er war bestimmt froh, dass ich ihn nicht ständig mit Handball vollquatschte, wie mein Vater, und auch nicht mit Physiotherapie und neuartigen Behandlungsmethoden, wie meine Mutter. Einmal kam ich gerade rein, als er sich seinen Unfall auf YouTube angesehen hat. Das hat er wahrscheinlich öfter gemacht. Vielleicht war es das, was ihn angetrieben hat, irgendwie. Er hat jedenfalls geackert wie ein Brauereipferd und dann die Sache mit dem Kreuzband. Das ist schon echt blöd, aber sollte er nicht dankbar sein, dass er noch lebt? Dass er nicht für den Rest seines Lebens im Rollstuhl sitzt?
Ich fahre nur zwanzig Minuten, heute fünfundzwanzig. Weil ich immer noch mehr als zwei Stunden Zeit habe, bis ich antreten muss, gehe ich in die Cafeteria und hole mir was zu essen. Und ich fange schon mal mit dem ersten Kaffee an, damit sich mein Magen bloß nicht einbildet, dass er heute verschont wird. Es sitzen ein paar Kollegen an den Nachbartischen, aber ich habe keine Lust, mich zu unterhalten. Vor den Spätdiensten habe ich gern meine Ruhe. Normalerweise komme ich erst kurz vor knapp zum Dienst. Die Illustrierten boxen mich nicht, mein Handy schafft es auch nicht, mich richtig abzulenken. Ich wühle ein bisschen verzweifelt in meiner Tasche und da gerät mir das Buch in die Finger, das ich meinem Bruder aus der Hand gerissen habe. Der Fänger im Roggen. Ich blättere darin herum, als wäre es ein Bilderbuch. Ich hätte mal meine Schulbücher mitbringen sollen. Ist ja nicht so, als hätte ich noch wahnsinnig viel Zeit bis zu den Prüfungen. Auf der anderen Seite – wozu der Aufwand? Ich war immer gut in der Schule und in der Ausbildung langweile ich mich manchmal. Sicher übernommen werde ich auch. Das klingt nicht gerade wie eine Herausforderung.
Ich schlage die erste Seite auf und beginne zu lesen. Ich verstehe nicht, was mein Bruder daran gefunden hat. Er ist doch einer von denen, die immer überall reingepasst haben, einer von den Begabten, für den man auch mal die Normen anpasst, wenn es denn sein muss. Ist doch nicht schlimm, wenn der Junge schlecht in Mathe ist – und in Deutsch und in Englisch und in Kunst und in Physik – so wie der Handball spielt. Er ist doch einer von diesen verlogenen Typen. Ihr solltet ihn mal im Fernsehen sehen bei seinen Interviews, wie er sich selbst feiert! Wie bescheiden er immer tut, obwohl er ganz genau weiß, dass er der Beste ist. Wahrscheinlich wäre jeder so aufgeblasen, wenn nach jedem Tor, das er wirft, zigtausend Leute seinen Namen rufen.
Nach den ersten zehn Kapiteln hole ich mir einen neuen Kaffee und lese weiter. Ich habe ja nichts Besseres zu tun.
Meine Freundinnen in der Schule hatten keinen blassen Schimmer von Handball, aber sie standen tierisch auf meinen Bruder. Sie mussten ja auch nicht mit ihm zusammenwohnen. Zugegeben, objektiv betrachtet sah er nicht ganz schrecklich aus. Groß und gut im Training, ich konnte meine Mädels da schon verstehen. Aber musste denn jedes Gespräch mit „Und, wie geht’s deinem Bruder?“ beginnen? Ein paar von ihnen haben nach seinem Unfall bei mir angerufen, da hatten wir gerade vor einem halben Jahr Abi gemacht. Ich war ganz froh, dass keine von ihnen auch nur so tat, als würden sie sich für mich und das, was ich in den letzten Monaten erlebt hatte, interessieren. In meiner Berufsschulklasse habe ich niemandem gesagt, wer mein Bruder ist. Aber sein Unfall war ja schon in meinem ersten Lehrjahr und dann kam er zu uns in Krankenhaus. Wie hätte ich es da noch geheim halten können? Und es ging wieder los. Ich wurde zum unfreiwilligen Sprachrohr meines Bruders, jeder wollte plötzlich wissen, wie es ihm geht, jeder wollte in der Cafeteria neben mir sitzen. Vielleicht nicht jeder, aber schon viele. Ich will mir nicht vorstellen, wie sich Geschwister von Fußballstars fühlen. Das muss noch viel, viel schlimmer sein.
Das hat sich zum Glück rausgewachsen. Jetzt wissen zwar alle, wer mein verfluchter Bruder ist, aber sie liegen mir nicht mehr ständig damit in den Ohren. Hin und wieder, wenn mal wieder im Fernsehen was über Handball kommt, kommen sie an. Die EM nach Katar war schlimm und die nächste WM in Frankreich. Nicht nur wegen der Kollegen und der alten Freunde, die angerufen haben. Auch zu Hause. Mein Bruder hat sich alle Spiele angesehen und ihr hättet dabei sein Gesicht sehen müssen. Keine Ahnung, was er gedacht hat, aber es muss ganz düster gewesen sein. Das zu sehen und zu wissen, dass er dort nie wieder hinkommt, obwohl er erst fünfundzwanzig ist. Dass seine Karriere vorbei ist, bevor sie richtig angefangen hat. Und dass er eigentlich nichts anderes kann.
Nach Kapitel achtzehn schlage ich das Buch zu, stecke es in die Tasche zurück und mache mich auf den Weg zur Umkleide. Wenn ich die blaue Kluft überziehe, ist es immer, als würde ich in eine andere Welt eintreten. So ist es wahrscheinlich mit allen Uniformen. Ich mag das Gefühl, meinen Job an- und ausziehen zu können. Das hat mir nach einem harten Dienst schon manche Nacht gerettet. Das heißt nicht, dass mich meine Arbeit nicht manchmal in meinen Träumen verfolgt. Der erste Tote während meiner Schicht, das war übel. Das erste tote Kind, die erste tote Frau, die so alt war wie ich. Aber ich träume auch von den schönen Dingen. Leute, die nach einer großen OP wieder entlassen werden, die in letzter Sekunde gerettet wurden, die nach dreifachem Wirbelbruch wieder gehen können.
Ich bin bei der Übergabe nicht ganz bei der Sache. Ich muss an die Erdnüsse denken, die ich auf meinen Bruder geworfen habe. Und dass ich ihm das Buch weggenommen habe. Die Realität holt mich aber ziemlich schnell ein. Eine fünfundvierzigjährige Frau kommt aus der Notaufnahme. Sie hat ein heftiges Hämatom um den Hals, als hätte sie jemand gewürgt, und wird beatmet. Wir schließen sie an alle Monitore an und gehen sicher, dass sie fürs Erste stabil ist.
„Die wird nicht lange bleiben“, sagt eine Kollegin beim Rausgehen.
Ich frage nicht nach, was sie damit meint.
Eine halbe Stunde später müssen wir einen Patienten wiederbeleben. Es herrscht ein rauer Ton auf Station. Wahrscheinlich wird man so, wenn einem jeden Tag mindestens ein Mensch unter der Hand wegstirbt. Und das, obwohl man Weltmeister in der Herzdruckmassage ist und so viele Notfallmedikamente da hat, dass man einen ganzen Zirkus umbringen könnte. Ich weiß nicht, ob ich das für den Rest meines Lebens aushalte.
Es kommt ein Patient aus dem Herzkatheter, den wir nach einer dreiviertel Stunde Reanimation aufgeben müssen. Da habe ich meinen Bruder längst vergessen. Endlich hat mich das blaue Gewand ganz eingehüllt.
Kurz vor meiner Pause wacht die Frau mit den Würgemalen am Hals auf. Ich stehe gerade neben ihr und stelle die Medikamentenpumpe ein, da macht sie die Augen auf und starrt mich an. Ich zucke zusammen und klatsche mir die Hand vor den Mund. Habt ihr schon mal jemanden gesehen, der gewürgt wurde? Das sieht richtig schlimm aus. In ihren Augen sind die Adern geplatzt, nicht nur ein paar, sondern alle. Das eigentlich Weiße in ihren Augen ist komplett dunkelrot und dann diese blaue Iris in der Mitte.
Im nächsten Moment muss ich sie davon abhalten, sich den Schlauch aus dem Hals zu zerren. Der Arzt kommt, entfernt ihn und danach liegt sie da und starrt an die Ecke. Während meine Kollegen zugange waren, habe ich das Krankenblatt gelesen und jetzt verstehe ich auch, was meine Kollegin vorhin meinte. Die Frau wurde nicht gewürgt, sie hat versucht, sich selbst zu erwürgen. Sie wird in die Psychiatrie verlegt, sobald dort das Bett frei ist.
Ich kann das Zimmer noch nicht verlassen. Sie ist die nicht meine erste Patientin, die sich umbringen wollte. Ich habe schon einige erlebt, die es geschafft haben. Ich frage mich, warum sie sich das Leben nehmen wollte. Und ob sie froh ist, dass es nicht geklappt hat. Sie sieht nicht froh aus. Es sieht ehrlich gesagt nicht aus, als würde sie überhaupt irgendwas fühlen. Ich höre sie schluchzen und komme ein Stück näher zum Bett.
„Ich hatte doch schon Tschüss gesagt“, sagt sie und fängt an zu weinen.
Da läuft es mir kalt den Rücken runter. Und ich meine nicht nur ein bisschen kalt, sondern richtig eisig, als hätte mir jemand einen Eimer Polarmeerwasser in den Kragen gegossen. Ich habe die Medikamentenpumpe in der Hand und starre die Frau an, als wäre eine von uns geisteskrank. Es fühlt sich an, als hätte irgendetwas in meinem Hirn Klick gemacht.
„Wie bitte?“, frage ich, aber die Frau heult nur weiter und antwortet nicht.
Ich habe sie genau verstanden und ich weiß auch, was sie meint. Wir kriegen alle Schulungen zur Selbstmordgefahr. Ich weiß, dass die meisten Selbstmorde angekündigt sind, wenn auch subtil. Die meisten sagen auf irgendeine Weise Tschüss.
Ich werfe die Pumpe auf das Bett der Patientin und renne aus dem Zimmer. Auf dem Gang kommt mir ein Bett mit einem ganzen Pulk Kollegen entgegen und sie alle glotzen. Ich nehme keine Rücksicht. Ich wühle mich durch sie durch bis ich endlich wieder freie Bahn habe. Hinter mir rufen sie, ich höre meinen Namen und ein paar fiese Worte. Als ich an der Umkleide angekommen bin, ist mir schon am ganzen Körper der Schweiß ausgebrochen und ich zittere, als wäre ich auf Koks. Jedenfalls stelle ich es mir so vor.
Zum Umziehen habe ich keine Zeit. Ich versenke beide Hände in meiner Tasche, mit der einen packe ich das Buch, mit der anderen den Autoschlüssel und dann renne ich wieder. Das Krankenhaus kommt mir auf einmal so verdammt groß vor. Überall schleichen Leute herum, die ich zur Seite schieben muss, weil sie sich nicht bitten lassen. Draußen ist es verflucht kalt und ich habe vergessen, wo ich den Twingo abgestellt habe. Wie ein Autodieb sprinte ich durch die Reihen, drücke immer wieder den Knopf auf der Fernbedienung und schaue, wo ein Paar Lichter blinken.
Mit den Krankenhausschlappen fährt es sich nicht besonders gut. Trotzdem trete ich das Pedal durch, sobald ich den Parkplatz verlassen habe. Aber ich bin verdammt nochmal nicht die einzige auf der Straße. Ich werde die ganzen Trottel, die ausgerechnet jetzt nach Hause fahren, persönlich dafür verantwortlich machen, wenn ich zu spät komme. Das darf ich nicht einmal denken!
Ich bin so bescheuert! Wie habe ich das nicht sehen können? Wie habe ich nicht sofort daran denken können, als er es gesagt hat? Tschüss. Das sagt er sonst nie. Er macht sich nie die Mühe, sich überhaupt von mir zu verabschieden, wenn ich das Haus verlasse. Aber wenn es das letzte Mal gewesen wäre? Dann wahrscheinlich schon.
Ich hupe. Der Idiot vor mir hat an der Ampel gehalten, obwohl sie gerade erst gelb geworden ist. Er bewegt sich kein Stück. Ich sehe auf zu der roten Ampel und fange an zu heulen. Plötzlich weiß ich, dass es knapp wird. Was ist, wenn es schon vorbei ist? Wenn ich ankomme und nichts mehr tun kann? Was, wenn er überhaupt nicht zu Hause ist, sondern von irgendeiner verdammten Brücke springt oder vor ein Auto läuft?
Ich schäme mich so. Ich schäme mich, weil ich vorher nie daran gedacht habe. Dass er vielleicht leidet, weil er nicht mehr spielen kann. Dass er dieses Leben ohne Handball nicht mehr leben will. Ich habe keine Ahnung, wie es sich anfühlt, so eine Leidenschaft zu haben, geschweige denn sie zu verlieren. Ich habe nie irgendwas so sehr gewollt, dass ich alles andere vernachlässigt habe. Mein Bruder hat immer nur für Handball gebrannt. Mathe und Deutsch waren ihm egal, Computerspiele haben ihn nicht interessiert, sogar Mädchen hat er kaum mit dem Hintern angeschaut. Er hat nie etwas anderes gemacht als Handball. Und von einem Augenblick auf den anderen war das alles weg. Für immer. Wie gescheitert muss er sich jetzt vorkommen? Wie nutzlos? Und dann nerve ich ihn auch noch mit irgendeinem blöden Job!
Die Ampel wird grün. Bei der ersten Gelegenheit rase ich an dem Auto vor mir vorbei und ziehe davon. Es dauert ungefähr zwanzig Sekunden, bis ich an der nächsten Kreuzung stehe.
Ich habe jedes Spiel gesehen, das mein Bruder in der Bundesliga und in der Nationalmannschaft gespielt hat. Ich war so gut wie nie mit in der Halle, aber ich habe sie alle im Fernsehen oder im Livestream gesehen. Ich glaube nicht, dass er das weiß. Ich habe mir die Spieltage immer frei genommen, auch wenn meine Freundinnen irgendwas unternommen haben. Zur EM und zur WM habe ich sogar manchmal die Schule geschwänzt. Und wenn ich aus irgendeinem Grund doch ein Spiel verpasst habe, schaute ich es mir danach im Internet an. Ich habe jede Minute, die er als Profi auf einem Handballfeld verbracht hat, gesehen. Es ist nämlich so, dass ich meinen Bruder bewundere. Und das nicht erst seit seinem Unfall. Schon als ich noch klein war, gab es niemand Tolleren als meinen Bruder. Ich habe mich sogar mal mit einem Jungen aus meiner Parallelklasse geprügelt, weil der behauptet hat, mein Bruder hätte am Tag zuvor schlecht gespielt.
Ich kann weiterfahren, endlich habe ich nur noch die Landstraße vor mir.
Natürlich habe ich mir schon mal gewünscht, keinen Bruder oder einen anderen zu haben. Aber eigentlich kann ich mir nicht vorstellen, dass er nicht mein Bruder ist. Ich kann mir nicht vorstellen, das einzige Kind meiner Eltern zu sein. Ich will es mir nicht vorstellen. Ich weiß noch, wie schlecht mir war, als ich ihn da habe liegen sehen. Und wie unendlich erleichtert ich war, als er wieder aufgestanden ist. Der Gedanke daran, dass er nicht mehr am Leben ist, wenn ich zu Hause ankomme, schnürt mir die Kehle zu. Aber ich kann nicht schneller fahren. Ich habe drei Autos vor mir und permanent kommt mir etwas entgegen.
Wie konnte ich das Haus überhaupt verlassen? Wie konnte ich nicht merken, dass irgendetwas nicht stimmt? Ich schluchze inzwischen schon so heftig, dass ich kaum noch Luft kriege. Es fehlt nicht mehr viel bis ich total hysterisch werde. Ich stelle mir vor, wie mein Bruder in seinen letzten Minuten ganz allein ist und darauf wartet, dass es endlich vorbei ist. Oder darauf hofft, dass es nicht klappt. Ich weiß nicht, was schlimmer ist. Ich will einfach nicht, dass er stirbt. Nicht jetzt zumindest. Er kann von mir aus vor mir sterben, aber erst in fünfzig oder sechzig Jahren.
Im Ort überhole ich noch zwei Autos und werde ziemlich vollgehupt, aber das ist mir egal. Ich schlittere in die Seitenstraße hinein und halte direkt vor dem Haus. Ich stoße die Tür auf und falle aus dem Auto. Meine Knie haben nachgegeben und ich knalle auf die überfrorene Straße. Der Schmerz schießt mir bis in die Hüfte. Ein paar Tropfen Rotze aus meiner Nase landen vor mir auf dem Boden. Ich ziehe mich am Auto wieder auf die Füße. Es sind nur ein paar Schritte bis zur Haustür, aber es kommt mir vor wie eine halbe Ewigkeit.
Ich frage mich, wie er es gemacht hat. Versucht hat. Ob er sich eine Waffe besorgt hat oder ob ich reinkomme und da hängt er an der Decke. Oder ob er im roten Badewasser schwimmt. Vielleicht hat er auch irgendein giftiges Zeug getrunken. Rohrreiniger oder so. Oder er hat die ganze Hausapotheke meiner Mutter geschluckt. Was mache ich nur, wenn er nicht da ist? Wie soll ich ihn jemals finden? Auf einmal tauchen Polizisten vor meinem inneren Auge auf, die klingeln und meinen Eltern und mir sagen, dass mein Bruder in irgendeinem Fluss gefunden wurde. Oder dass sie ihn von einer Schiene gekratzt haben.
Ich drehe den Schlüssel im Schloss, reiße die Tür auf und stürme hinein. Ich traue mich nicht zu rufen. Ich könnte es nicht ertragen, keine Antwort zu bekommen. So schnell ich kann öffne ich alle Türen. In der Küche ist er nicht, im Wohnzimmer auch nicht. Ich schaue sogar in der Vorratskammer nach. Das untere Bad ist auch leer. Die Treppe hoch. Sein Zimmer steht offen. Die schlimmsten Bilder von dem, was mich darin erwartet, schießen durch meinen Kopf. Sein lebloser Körper am Boden oder auf dem Bett. Überall Blut.
Auf Zehenspitzen gehe ich auf die Schwelle zu. Ich kneife die Augen zu, als ich den Türrahmen erreiche und mich daran festkralle. Ich würde alles dafür geben, mir den Anblick ersparen zu können.
Da höre ich es. Ein leises Geräusch aus dem Badezimmer nebenan. Als hätte jemand eine Zahnpastatube geöffnet. Oder eine Pillendose. Ich reiße die Augen auf und mache einen Satz. Die Tür ist offen. Sie fliegt nach innen auf und knallt an die dahinterliegende Wand. Mein Herz rauscht in meiner Brust nach oben wie ein Hochgeschwindigkeitsaufzug, als ich meinen Bruder am Waschbecken stehen sehe. Wenn er steht, ist er zumindest noch am Leben. Dann rast es allerdings nach unten, als hätte jemand die Seile des Aufzuges durchgeschnitten, denn er ist gerade dabei, die letzte Tablette aus einer weißen Dose in seinen Mund zu schütteln und sie hinunterzuschlucken.
Er ist einigermaßen überrascht, mich zu sehen. Ich kann nicht genau sagen, ob er nicht auch ein bisschen erleichtert ist. Viel Zeit hat er aber nicht, seine Gesichtszüge unter Kontrolle zu bringen. Ich springe ihn geradezu an.
„Spuck sie wieder aus“, brülle ich, während ich halb auf seiner Schulter hänge.
Er versucht mich abzuschütteln. Eigentlich ist er viel stärker als ich, aber ich bin fast wahnsinnig vor Angst. Ich werde nicht zulassen, dass er sich so aus dem Staub macht. Nicht, ohne sich anständig verabschiedet zu haben. Mit einem bloßen Tschüss ist es jedenfalls nicht getan!
„Spuck sie wieder aus, hab ich gesagt!“
Jetzt kriegt er meine beiden Unterarme zu fassen und zieht mich herunter. Sein Gesicht ist genau vor meinem und er starrt mich wild an.
„Weib!“, schreit er. „Was zur Hölle ist dein Problem?!“
„Glaubst du, ich lasse dich einfach so gehen?“, schreie ich zurück.
„Gehen? Wohin denn?“
Ich habe ja schon gesagt, dass mein Bruder nicht so schlau aussieht, aber ich habe ihn nie für dumm gehalten. Deshalb bin ich von seiner Frage ziemlich verunsichert.
„Wie viele von denen hast du schon genommen?“, frage ich.
„Zwei?“
Mit einem Ruck entreiße ich ihm meine Arme. Ich nehme die Pillendose, die ins Waschbecken gefallen ist, und werfe sie ihm an den Kopf. „Verarsch mich nicht! Wie viele waren da drin?“
„Zweihundert Stück. Steht doch drauf.“
„Du hast zweihundert von denen genommen?! Oh Gott!“
Instinktiv greife ich in meine Hosentasche. Ich habe aber immer noch die Kliniksachen an und natürlich kein Handy in der Tasche. Ich bin schon fast aus dem Badezimmer, um über das Festnetz die 112 zu rufen. Er kommt hinter mir her und hält mich an meinem Oberteil fest.
„Lass mich los!“
Er hört nicht. Ich habe sogar den Eindruck, dass er lächelt und das macht mich erst richtig sauer. Ich boxe ihn an der Schulter. Er lacht los, also schlage ich härter zu.
„Warum zum Teufel sollte ich mir zweihundert Stück davon reinziehen?“, fragt er.
Darauf finde ich keine Antwort. Er hebt die Dose vom Boden auf und hält sie mir vor die Nase. Grapefruitkernextrakt. Das Zeug, das ihm unsere Mutter immer gibt, weil es angeblich gut für die Abwehr und die Knochen und die Schleimhäute und was weiß ich noch ist. Mir schießt es rot in die Wangen, weil ich weiß, dass ich nicht so leicht aus der Nummer rauskomme.
„Was hast du denn gedacht, was es ist?“
Ich antworte nicht. Ehrlich gesagt, weiß ich auch nicht so genau, was ich mir gedacht habe. Auf einmal kommt mir mein gesamter Gedankengang vom Bett der rotäugigen Patientin bis hierher mehr als idiotisch vor.
„Hast du gedacht, dass ich dir deine Gingkopillen wegfresse, oder was?“
Ich drehe mich um und gehe aus dem Bad, aber er kommt mir hinterher.
„Lass mich in Ruhe“, rufe ich über die Schulter, obwohl ich natürlich weiß, dass es rein gar nichts bringt.
„Sag schon.“ Er ist mit in mein Zimmer gekommen und jetzt verstellt er mir mit seinem massigen Handballkörper den einzigen Fluchtweg.
Warum will er es unbedingt hören? Reicht es ihm nicht, dass ich mich zum Vollhorst gemacht habe? Ich stemme beide Hände in die Hüften und schaue herausfordernd zu ihm hoch.
„Ich hatte eben Angst, okay?“
Ein bisschen bin ich selbst überrascht über das, was aus meinem Mund kommt. Aber das ist nichts im Vergleich zu dem, was sich im Gesicht meines Bruders abspielt. Da wechseln sich seine übliche arrogante Belustigung mit so etwas wie Nachdenklichkeit und, wenn ich es nicht völlig falsch interpretiere, Betroffenheit ab. Als könne er für einen Moment verstehen, welche Qualen ich in der letzten halben Stunde ausgestanden habe.
„Du hast ernsthaft gedacht, dass ich mich umbringe?“
Aus seiner Stimme ist jede Ironie verschwunden. Er meint die Frage wirklich ernst. Jetzt kommt er mir auch schon viel kleiner vor und viel weniger bedrohlich. Als er seine Hand nach mir ausstreckt, schlage ich sie trotzdem weg.
„Du blöder Idiot“, sage ich und kann gerade noch ins Bad stürmen und die Tür hinter mir zuschließen, bevor ich anfange zu heulen.
Ich höre ihn nicht, aber ich spüre dass er da ist, nur zwei Zentimeter Holz entfernt. Ich bin immer so verdammt stolz gewesen, dass er mein großer Bruder war. Ich habe mir richtig was darauf eingebildet. Ich habe in der Aufmerksamkeit gebadet, die ich durch ihn bekommen habe. Kein Wunder, dass sich nie jemand für mich interessiert hat. Ich war nichts ohne meinen Bruder.
„Ich wollte es tun“, kommt es plötzlich durch die Tür. „Am Anfang.“
Ich wische mir den Rotz von der Nase und die Tränen aus den Augen. „Und jetzt?“
Er seufzt. „Jetzt nicht mehr.“
Ich frage nicht weiter. Ich habe das Gefühl, dass er noch etwas sagen will, aber ihm schwerfällt, es auszusprechen.
„Ich bin froh, dass ich nicht mehr spielen kann. Also … falsch. Ich bin froh, dass der Druck weg ist. Dass mich niemand mehr zwingt.“
„Mama und Papa?“
„Die auch. Aber ich meine alle. Wenn du irgendetwas gut kannst, dann gibt es immer jemanden, der auch was davon hat. Und der will dann, dass du alles gibst. Immer. Was du willst, ist egal, und wenn du nicht mehr kannst, dann sagen sie dir, dass es eine Phase ist, die vorbei geht.“
Ich kann hören, wie er sich von außen gegen die Tür lehnt und sich daran runtersinken lässt. Ohne darüber nachzudenken, mache ich innen dasselbe. Die Arme schlinge ich um meine angezogenen Knie. Es fühlt sich fast so an, als könne ich seine Körperwärme durch das Holz fühlen.
„Ich weiß, dass Mama und Papa es gut meinten. Es war ihre Art, mich zu lieben, wenn sie mich angetrieben haben. Aber ich habe dich trotzdem immer beneidet.“
Ich schnaube. Ich muss mich wohl verhört haben!
„Sieh es mal aus meiner Perspektive“, sagt er. Es klingt wie eine aufrichtige Bitte. „Ich durfte nie essen, was ich wollte, nie so viel schlafen, wie ich wollte. Ich durfte am Wochenende nie mit meinen Freunden feiern gehen, durfte nicht mit ihnen in den Urlaub fahren. Natürlich habe ich den Erfolg genossen. Aber es ist nicht so, dass ich keinen Preis dafür bezahlt habe.“
Ich kaue auf meiner Unterlippe. Mir sitzt immer noch ein riesiger Kloß im Hals. „Aber Mama und Papa haben sich nie für mich interessiert. Sie haben sich nie darum geschert, was ich mache.“
„Das ist der Preis, den du gezahlt hast. Dafür, dass du deine Freunde besuchen konntest, wann du wolltest, dass du die Noten schreiben und die Typen mit nach Hause bringen konntest, die du wolltest. Wenn du eine ganze Packung Zigaretten am Fenster geraucht hast, haben sie kein Wort gesagt, aber wehe, ich roch auch nur ein bisschen nach Rauch. Du weißt, wie Mama immer ausgerastet ist.“
Ich muss lächeln. Unsere Mutter kann eine echte Furie sein und jeder Versuch, sie zu beruhigen, stachelt sie nur noch weiter an. In den Momenten, in denen sie über ihn herfiel, tat mir mein Bruder richtig leid.
„Ich meine“, sagt er, „ich liebe den Sport und das Spielen im Team – das kannst du dir nicht vorstellen, wenn du es nicht selbst erlebt hast. Aber auf die Journalisten und die Kommentatoren und die meisten Fans kann ich echt verzichten. Immer geht es um mehr als nur den Sport.“ Für ein paar Sekunden ist es still auf der anderen Seite der Tür. „Ich habe mir richtig oft gewünscht, dass ich einfach ohne irgendein bescheuertes Talent geboren wäre.“
„Hm“, mache ich.

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